Ingwer
„ICH WEIß ES NOCH NICHT“
Es war Luise, die alle versorgte, verpflegte, aufzog, und ernährte. Ich habe sie nie ein böses Wort sagen, nie klagen oder schimpfen hören. Der Großvater war derjenige, der Hass säte und die Kinder demütigte und schlug. Aber Luise erhielt am Ende auch noch den Hass und die Wut der eigenen Kinder.
Luises neuer Rhythmus im Hause ihrer Schwiegertochter: Aufstehen, anziehen, Frühstück, Warten auf das Mittagessen, Fernsehen, Abendessen.
Ich war Mitte zwanzig, als ich einen Tag auf sie aufpassen sollte. Morgens kam ich an und das Erste, was sie fragte war: Was gibt es zum Mittagessen. Ich hatte mir noch keine Gedanken gemacht. Wollte schauen, was da war und eventuell noch etwas einkaufen. Also sagte ich: „Ich weiß es noch nicht“. In diesem Moment weiteten sich ihre Augen, ihre Hände machten fahrige Bewegungen, sie war ganz aufgeregt und ich verstand zunächst nicht, warum sie sich so aufregte. Schließlich verstand ich: Sie musste morgens wissen, was es mittags gab – sonst war ihr neuer Lebensrhythmus gestört. Es musste seinen ordentlichen Ablauf haben. „Frikadellen“ sage ich hastig, „mit Kartoffeln und Salat“. Das war das erste, was mir einfiel. Und sofort entspannte sie sich und lächelte. Und ich ging zum Einkaufen.
Ich besuchte Luise ab und zu, da ich weit weg studierte und nur selten nach Hause kam.
Wenn ich da war, las ich vor.
Einmal las ich ihr aus dem Buch „Herbstmilch“ – die Lebensgeschichte einer Bäuerin. Es wurde das harte Landleben geschildert und wie die Bäuerin ihre Familie durch die harten Zeiten und Kriegsjahre brachte, über Landarbeit und Entbehrungen.
Ich erschrak, weil irgendwann Luise bitterlich anfing zu weinen. In ihrer schwer verständlichen Sprache sagte sie: „Genauso war es bei mir.“
Und ich weinte mit ihr.